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Lateinamerikas konkrete Alternative
Hintergrund: Das neue Sicherheitssystem gegen den Norden heißt ALBA


Gemein ist beiden Regionen gerade einmal die Metapher. »Alba«, das spanische Wort für Morgenröte erweckt in Europa wie in Lateinamerika die gleichen Assoziationen. In beiden Kulturkreisen steht das Licht der aufgehenden Sonne für den neuen Tag, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. An diesem Punkt aber enden auf der Bühne der Realpolitik die Gemeinsamkeiten von Europäern und Lateinamerikanern. Bei letzteren steht die Abkürzung ALBA für »Alternativa Bolivariana para las Américas«. Die »Bolivarianische Alternative für die Amerikas« ist ein geopolitisches Projekt, das die Staatschefs von Kuba und Venezuela, Fidel Castro und Hugo Chávez, Ende vergangenen Jahres aus der Taufe gehoben haben. Das strategische Fernziel von ALBA ist, aus Südamerika einen politisch und wirtschaftlich geeinten Machtblock zu schaffen. Er soll in der Lage sein, in einer mulitpolaren Welt die Interessen des Kontinents zu vertreten. Historisch betrachtet, verkörpert ALBA die moderne Umsetzung von Simón Bolívars Vorstellung der »Patria Grande«, des »großen Vaterlandes«, im 21. Jahrhundert.

US-Hegemonie zurückgedrängt

Das Neue daran ist, daß es sich bei der ALBA um ein originär lateinamerikanisches Projekt handelt und nicht um das Resultat der Arbeit einer beliebigen Denkfabrik auf der Nordhalbkugel. Und obgleich die Ausgangslage eine andere ist, sind durchaus Parallelen zum westeuropäischen Einigungsprozeß nach 1945 erkennbar. Vom Washingtoner Standpunkt aus betrachtet, hat Lateinamerika seit dem 19. Jahrhundert wirtschafts- und militärstrategisch zur »westlichen Hemisphäre« der US-Außenpolitik gezählt. Im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte expandierten die USA kontinuierlich in ihrem »Hinterhof« – zum Wohlgefallen der heimischen Wirtschaft. Und bis ins neue Jahrtausend waren die Vereinigten Staaten in der Lage, südlich des Rio Bravo ihre politischen und wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen – notfalls mit Gewalt – durchzusetzen.

Noch im Jahr 2000 sah es so aus, als ob die mittlerweile einzige Weltmacht fähig wäre, ihre Wunschvorstellung von der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA (Área de Libre Comercio de las Américas), die nach Wünschen William Clintons »von Alaska bis Feuerland« reichen sollte, bis 2005 umzusetzen. Der Plan entstand in den neunziger Jahren in den neokonservativen Think-tanks der USA. Sein geostrategisches Ziel war es, den Einfluß des europäischen und chinesischen Kapitals auf beiden amerikanischen Kontinenten, aber vor allem aus Südamerika, zurückzudrängen.

Gute Erfahrungen hatte Washington in dieser Hinsicht mit der »Nordamerikanischen Freihandelszone« NAFTA gemacht, die neben den USA auch Mexiko und Kanada umfaßt. Nach Inkrafttreten am 1. Januar 1994 brachen die Importe europäischer Güter ein. An ihre Stelle traten die Einfuhren aus den NAFTA-Mitgliedsstaaten. US-Firmen siedelten nach Mexiko, wo sie billiger produzieren konnten. NAFTA war für die US-Handelspolitik ein Instrument, um den Vormarsch der EU als weltgrößter Handelsmacht in jener Region zu bremsen. Brüssel versuchte, das verlorene Terrain wettzumachen, indem man Mexiko-Stadt und Ottawa eigene Freihandelsverträge anbot. In Mexiko gelang dies – auch dank der starken Präsenz deutscher Unternehmen vor Ort. Mit Kanada ziehen sich die Verhandlungen in die Länge, weil im Hintergrund der nicht erklärte Handelskrieg zwischen den USA und der EU tobt. Mit ALCA würde Washington Brüssel ein zweites Mal zurückdrängen. Die absehbaren negativen Auswirkungen auf die Handelsbeziehungen mit der EU lassen vor allem Brasilien und Kanada zögern, dem Plan der bikontinentalen Freihandelszone »made in USA« zuzustimmen.

Hinzu kamen die schlechten Erfahrungen mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik, die ALCA in alle Staaten Amerikas hineintrüge: die mexikanischen Bauer machten die bittere Erfahrung, daß sie mit den subventionierten Grundnahrungsmitteln aus den USA ohne den Schutz von Zöllen nicht konkurrieren konnten. Die bis dato als wohlhabend geltenden Argentinier erlebten mit dem Zusammenbruch ihrer Wirtschaft 2001/2002 die schwarze Seite des Neoliberalismus. Und in Venezuela war der »Caracazo« in schlechter Erinnerung geblieben, jener Sozialaufstand, der 1989 in der Hauptstadt ausbrach, als der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez auf Anweisung des Internationalen Währungsfonds die Subventionen für Grundnahrungsmittel und den öffentlichen Nahverkehr ersatzlos strich. Den Hungertod vor Augen, stürmten die Armen die Supermärkte der Hauptstadt. Der Präsident ließ sie vom Militär zusammenschießen. Die Angaben über die Opfer schwanken zwischen 300 und 3 000 Toten.

Wege aus dem neoliberalen Elend

Die katastrophale soziale wie politische Lage in dem südamerikanischen Land trug nach dem »Caracazo« maßgeblich zum Zerfall der etablierten Parteien und damit 1998 zur Wahl Hugo Chávez' zum Präsidenten bei. Als dieser 2001 beim Amerikagipfel in Quebec sein Veto gegen ALCA explizit schriftlich festhalten ließ, nahmen ihn politische Beobachter noch nicht ernst. Der Tübinger Politologe Andreas Boeckh sah Chávez' Venezuela auf dem Weg »Von einer ›Chaosmacht‹ zu einer regionalen Mittelmacht und wieder zurück«.

Solche Analysen zeugten vom gewohnt paternalistischen Umgang mit der sogenannten dritten Welt. »Hilfe zur Selbsthilfe« lautete die Devise, die in den achtziger Jahren die christlichen Kirchen in Westdeutschland predigten, damit Jugendliche und ihre Eltern so manche D-Mark und Arbeitsstunde spendeten, um den »armen« Lateinamerikanern zu helfen. Die Unterstützung war projektorientiert, griff aber niemals die Probleme an der Wurzel an. Die jüngste Geschichte zeigt, daß es des Wahlsieges von Hugo Chávez bedurfte, damit Lateinamerikaner ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen konnten. Chávez suchte rasch nach Verbündeten und fand einen ersten Partner in Kuba. Zunächst beschränkte sich die bilaterale Zusammenarbeit auf die Gesundheits- und Bildungspolitik sowie wirtschaftliche Hilfe. Kuba tauschte sein Know-how gegen Erdöl. Die bolivarische Republik erhielt spanischsprechendes Fachpersonal, das nicht gegen teure Devisen im kapitalistischen Norden angeworben werden mußte.

Kubas Beispiel in Venezuela hat gezeigt, daß seine Alphabetisierungsmethoden zum Erfolg führen und daß sein Gesundheitssystem kompatibel mit den Gegebenheiten in den Armenvierteln auf dem Kontinent ist. Venezuela bewies, daß der solidarische Tauschhandel – in seinem Fall Erdöl gegen Dienstleistungen oder Fertigprodukte – als eine neue Form des Wirtschaftens jenseits des Kapitalismus funktionieren kann.

Kontrolle des natürlichen Reichtums

So wurde die Grundlage für die strategische Achse Caracas-Havanna gelegt. Aus ihrer Dynamik entstand im Dezember 2004 die »Alternativa Bolivariana para las Américas«. ALBA nimmt die Grundübel ins Visier, mit denen alle lateinamerikanischen Staaten zu kämpfen haben: Armut, Nahrungsmittelknappheit, Krankheiten, Analphabetismus, fehlender Zugang zu Fachwissen und Technologie, Arbeitslosigkeit, schwindende Kontrolle über die Bodenschätze, hohe Auslandsverschuldung.

Die erste Lehre aus Venezuela und Kuba ist, daß jeder Staat Herr im eigenen Haus sein, also die natürlichen Reichtümer selbst verwalten muß, damit er mit den Verkaufserlösen seine Sozialpolitik finanzieren kann. Das bedeutet aber nicht, daß die kubanische und venezolanische Strategie per se auch auf die anderen südamerikanischen Staaten zu übertragen ist. Evo Morales hat den mutigen Schritt gewagt, als er Anfang Mai die bolivianische Erdöl- und Gasindustrie verstaatlichte und die ausländischen Investoren zwang, neue Verträge auszuhandeln. Einen ähnlichen Konflikt hatte es in Venezuela gegeben, wo nur ein US-amerikanischer und ein italienischer Konzern es ablehnten, ihre Kooperation mit dem staatlichen Energieversorger PDVSA neu zu gestalten. In Argentinien etabliert Néstor Kirchner neben den ausländischen Ölfirmen, die von der neoliberalen Privatisierungsorgie der neunziger Jahre profitiert hatten, wieder öffentliche Unternehmen – ohne Verstaatlichungen.

Diese Wirtschaftsmaßnahmen im nationalen Rahmen bilden die Grundlage für die bilateralen, regionalen und kontinentalen Gemeinschaftsprojekte, die dem politischen und sozialen Anspruch von ALBA entsprechen.

Energie für die regionale Integration

In der eingeläuteten Endphase der Petroära lassen sich mit dem Verkauf von Erdöl und Gas exorbitante Gewinne erzielen. Andererseits bedingt der hohe Ölpreis und der von den USA unilateral durchgesetzte Zwang, das schwarze Gold nur gegen US-Dollar zu erwerben, daß finanzschwache Staaten den für ihre Wirtschaft so lebenswichtigen Stoff nur im geringen Umfang ankaufen können. Daher setzt ALBA im Rahmen der industriellen Integration ihr Augenmerk derzeit auf die Energieversorgung Lateinamerikas und der Karibik. Nur noch eine Frage der Zeit ist es, wann mit dem Bau einer enormen Gaspipeline begonnen wird, die von Venezuela über Brasilien und Uruguay bis nach Argentinien führen wird. Parallel zu diesem Projekt prüfen Fachleute, ob es möglich ist, eine zweite Gaspipeline zu bauen, die Venezuela, Bolivien, Paraguay und Uruguay miteinander verbindet.

Gleichzeitig laufen zahlreiche Projekte zwischen den staatlichen Energieunternehmen an. Die venezolanische PDVSA will mit dem staatlichen kubanischen Energieunternehmen Cupet eine alte Raffiniere in Cienfuegos wieder in Betrieb nehmen. Das Vorhaben hat strategischen Charakter. Zwei Raffinerien für venezolanisches Erdöl befinden sich unmittelbar vor der Küste auf den Inseln Aruba und Curacao, die aber zu den Niederlanden gehören. Da Den Haag sich in den letzten Jahren als Washington-freundlich gezeigt hat, wenn es um die Stationierung von US-Streitkräften auf den Eilanden ging, sucht Caracas aus Gründen der nationalen Sicherheit nach Alternativen. Des weiteren kooperiert PDVSA mit der brasilianischen Petrobras, der paraguayischen Petropar sowie mit ihren staatlichen Pendants in Bolivien und Argentinien.

Über die Firma Petrocaribe tauscht PDVSA mit den Karibikstaaten Erdöl gegen Naturalien und Dienstleistungen oder gewährt besonders günstige Kredite. Das langfristige Ziel der neuen Energiepolitik ist die Bildung eines kontinentalen Energieunternehmens. »Petrosur« soll südamerikanisches Erdgas und Erdöl weltweit zu Preisen anbieten, die dieser multinationale, staatliche Konzern besser verteidigen kann, als es die Einzelunternehmen könnten. Seit seiner Amtsübernahme versucht Chávez, auch die Organisation erdölexportierender Staaten (OPEC) für seine neue Sozialpolitik einzusetzen.

Allseitige Unabhängigkeit

Das ist nötig, denn die Auslandsschulden lasten schwer auf den lateinamerikanischen Staaten. Der Bau der erwähnten Gaspipelines bedarf überdies zusätzlicher Finanzierung durch Bankkredite. Da man sich im Sinne von ALBA auch vom Diktat der Kreditinstitute des Nordens befreien möchte, ist eine eigene Entwicklungsbank nötig. Chávez hat bereits laut die Gründung einer »Banco de Sur« angedacht. Das benötigte Geld könnte auch aus den venezolanischen Devisenreserven kommen. Die 28 Milliarden US-Dollar liegen nicht mehr in den USA, sondern wurden unter anderem in die EU und auf Schweizer Konten transferiert. Interesse an dem Projekt haben auch arabische Investoren angemeldet, denen die USA aufgrund der antiarabischen Stimmung seit dem 11. September 2001 nicht mehr geheuer sind. Zur lateinamerikanischen Selbstfinanzierung – und zur venezolanischen Außenpolitik – gehört ebenfalls, daß Caracas einen Teil der argentinischen Auslandsschuld übernahm, was Buenos Aires ermöglichte, seine Schulden beim IWF drastisch zu reduzieren.

Und schließlich geht es um die Informationspolitik. »Unser Norden ist der Süden«, lautet der Wahlspruch von Telesur, wobei das spanische Wort »norte« sowohl »Norden« als auch »Ziel« bedeutet. Der Fernsehsender ist angetreten, um Lateinamerika mit Informationen zu versorgen, die weder die spanische Ausgabe von CNN noch die privaten Medien in den jeweiligen Ländern zu senden pflegen. Telesur entstand vorwiegend mit venezolanischem Kapital. Zu den Anteilseignern gehören Argentinien, Kuba und seit kurzem auch Bolivien. Neben diesem kontinentalen Projekt versuchen die einzelnen Staaten auf nationaler Ebene, der Vormachtstellung der privaten Medien, die zumeist von der Oligarchie kontrolliert werden, mittels Bürgerfunk eine Alternative von unten entgegenzustellen. Dabei blieb es aber nicht: Bei der diesjährigen 15. Internationalen Buchmesse in Havanna brachten Chávez und Castro die »Casa del ALBA« auf den Weg. Das »ALBA-Haus« soll ein multinationales Kulturunternehmen werden, das Musik, Kunst, Literatur und Handwerk aus Lateinamerika weltweit vertreibt. Um auch hier das Fastmonopol der Branchenriesen aus dem Norden zu unterlaufen, riefen die beiden Erschaffer von ALBA außerdem noch einen Verlag und ein Musik­label ins Leben.

Auch EU vor neuer Situation

Während die Neokonservativen in den USA das ALCA entwickelten, entstand in der Europäischen Union ein vergleichbares Projekt: die »strategische Partnerschaft«. Beide Vorhaben stehen in direkter Konkurrenz zueinander. Die Transatlantiker innerhalb der EU halten zumindest bei der Sicherheitspolitik einen Dreierbund EU, USA und Lateinamerika für möglich. Die Europäisten zögen dieser Perspektive eine Kooperation mit Lateinamerika auf der Basis eines Freihandelsabkommens vor. Auch diese Wunschvorstellungen kollidieren mit der Realpolitik. Zum einen hat Chávez vor wenigen Wochen den Austritt seines Landes aus der Andengemeinschaft angekündigt, weil Kolumbien und Peru mit den USA ein Freihandelsabkommen im Sinne von ALCA geschlossen haben. Damit ist nach der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) eine weitere interamerikanische Institution schwer angeschlagen und hat für Ansprechpartner wie die EU nur noch einen sehr begrenzten Wert. Früher oder später wird zudem die 2004 gegründete Südamerikanische Staatengemeinschaft CSN (1) die von den USA an der kurzen Leine gehaltene OAS als politische Vertreterin ablösen.

Zum anderen ist in der südamerikanischen Handelszone Mercosur eine Debatte über die Gestaltung des gemeinsamen Marktes entbrannt, weil sich Uruguay und Paraguay von den Wirtschaftsmächten Brasilien und Argentinien benachteiligt fühlen. So erklärt sich, warum es der EU beim jüngsten Lateinamerika-Gipfel in Wien nicht gelang, die festgefahrenen Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten über einen Freihandelsvertrag wieder anzuschieben.

Mit dem Beitritt Boliviens zur ALBA und dem Abschluß des »Handelspaktes der Völker« entwickelt sich die »Alternativa Bolivariana« zu einem außen- und wirtschaftspolitischen Sicherheitssystem, das sich wappnet, die unterschiedlichen Revolutionen in Kuba, Venezuela und Bolivien vor Angriffen aus dem Norden zu schützen.

Anmerkung:
1 Mitgliedsländer der CSN sind die Staaten der Andengemeinschaft (Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Peru, Venezuela), die Mitglieder des Mercosur (Argentinien, Brasilien, Paraguay, Uruguay) und andere Staaten, die zuvor keiner der beiden genannten Gemeinschaften angehörten (Chile, Guyana, Surinam)


junge Welt Ingo Niebel
Junge Welt, 13.06.2006








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