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»Ja, ich kann's« – Ecuador lernt lesen
Kubanische Alphabetisierungsmethode macht in Lateinamerika Furore
Pünktlich zum Internationalen Tag der Alphabetisierung wird Präsident Rafael Correa den
Andenstaat Ecuador zum »Alphabetisierten Vaterland« erklären.
Die illustre Reihe ist kein Zufallsprodukt: Ecuador wird heute das fünfte Land Lateinamerikas sein,
das das Gütesiegel der UNESCO als »Alphabetisiertes Vaterland erhält – nach Kuba (1961),
Venezuela (2005), Bolivien (2008) und Nicaragua (2009). Alle diese Länder werden von linken
Staatschefs regiert, die aus ihrer Sympathie für die kubanische Revolution kein Hehl machen. Allesamt
gehören sie dem linken Handelsbündnis »Bolivarianische Alternative für Amerika« (ALBA) an.
Entschiedener als anderswo wird dort versucht, die Kluft zwischen Arm und Reich zu überwinden.
Umgekehrt hat Kuba eine wichtige Rolle bei diesen Alphabetisierungskampagnen gespielt – vor allem mit
seinem Programm »Yo, sí puedo« (Ja, ich kann's). Ausgehend von einer Kampagne in Haiti wurde die
audiovisuelle Methode von der kubanischen Pädagogin Leonora Relys entwickelt. In 65 Stunden lernen
die Jugendlichen und Erwachsenen Lesen und Schreiben – und zwar nicht nur in Lateinamerika, sondern auch
in vielen afrikanischen Ländern. Selbst in Neuseeland und im spanischen Sevilla kommt das für
seinen Praxisnähe gelobte »Yo, sí puedo« zum Einsatz.
Damit die Methode flächendeckend greifen kann, ist jedoch politischer Wille nötig: In Ecuador
etwa muss jeder Student zehn Landsleuten das Lesen und Schreiben beibringen. So gelang es, die
Analphabetenquote innerhalb von zwei Jahren von 9 auf 3,8 Prozent zu senken.
In Bolivien wurden im ganzen Land über 28 000 Alphabetisierungsstationen eingerichtet. Neben 50 000
einheimischen Helfern waren 130 kubanische und 47 venezolanische Berater im Einsatz. Dass Volksbildung
bereits in der Kolonialzeit von den herrschenden Schichten als erster Schritt zur Bedrohung ihrer Macht
aufgefasst wurde, machte Präsident Evo Morales Ende letzten Jahres deutlich: »Den ersten Aymaras,
die lesen lernten, haben sie die Augen ausgestochen, und den ersten, die anfingen zu schreiben, wurden die
Hände abgeschlagen.«
Mit dem Alphabetisierungszertifikat ist es nicht getan: Bis 2012 sollen die ecuadorianischen Absolventen
das Grundschulniveau erreicht haben, sagt Bildungsminister Raúl Vallejo. In Bolivien und Nicaragua
ist das auf 600 Stunden angelegte Nachfolgeprogramm »Ja, ich kann weitermachen« bereits angelaufen.
Auch in Paraguay, Uruguay und Argentinien macht die kubanische Methode Furore, die in der Tradition der
»Pädagogik der Unterdrückten« steht, der Konzeption des brasilianischen Pädagogen Paulo
Freire. »Wenn jeder Paraguayer, jeder Bolivianer, jeder Argentinier und jeder Brasilianer mit eigener
Hand die Geschichte ihrer Zukunft schreiben kann, dann kann ihnen auch keiner mehr die Zukunft rauben«,
erklärte der paraguayische Präsident Fernando Lugo.
Doch der Weg ist noch weit. Als »eine der Tragödien in Lateinamerika« bezeichnete der spanische
Bildungsexperte Álvaro Marchesi letzte Woche in Brasília das Analphabetentum. Zu Recht:
Immer noch können rund 35 Millionen Einwohner des Subkontinents weder lesen noch schreiben, das sind
neun Prozent aller Lateinamerikaner über 15. Die Anzahl der »funktionalen Analphabeten«, die es nur
notdürftig beherrschen, liegt noch bedeutend höher.
Bis 2021 soll es damit vorbei sein, gelobten Bildungspolitiker aus Spanien, Portugal und den Ländern
Lateinamerikas auf einem Treffen der »Organisation Iberoamerikanischer Staaten« in der brasilianischen
Hauptstadt. Die Überwindung des Analphabetentums gehört zu den ehrgeizigen »Bildungszielen
2021«, die Generalsekretär Marchesi vorantreiben will.
An kubanischem Know-how soll es dabei nicht fehlen. Vizeminister Rolando Forneiro verwies auf die
Erfolgsgeschichte der Alphabetisierungsprogramme und bot seinen Kollegen kubanische Hilfe bei der
Lehrerfortbildung an.
Gerhard Dilger, Porto Alegre
Neues Deutschland 08.09.2009
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