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Der Gegenentwurf
Alternative Integration: Das Staatenbündnis ALBA hat sich zu einem ernstzunehmenden Akteur in
Lateinamerika entwickelt
Wenn die Regierenden der mächtigen Staaten dieser Erde zu ihren Gipfeltreffen zusammenkommen,
gleichen sich die Bilder immer wieder. Schwer bewaffnete Polizisten schotten das Tagungsgelände ab,
Demonstrationen werden verboten und mit Wasserwerfern angegriffen. Die Kosten für die Tagungen mit
ihren selten nennenswerten Ergebnissen gehen in die Millionen – wie für den G8-Gipfel in Heiligendamm
2007 mit über 100 Millionen Euro. In Pittsburgh, so schätzte die Stadtverwaltung, seien allein
für die Sicherung des G-20-Treffens im September 20 Millionen US-Dollar aufgewandt worden. Dafür
übermitteln uns die Agenturen und Fernsehstationen dann die immergleichen Bilder von höchst
wichtigen Funktionsträgern, die sich mit wichtiger Miene in Andeutungen à la "Wir glauben,
daß wir gut aufgestellt sind" (Angela Merkel beim G-20-Gipfel in London) vom Stapel lassen.
Völlig anders sieht es jedoch aus, wenn sich in Lateinamerika die Präsidenten der
"Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerika" (ALBA) treffen, so jüngst
im bolivianischen Cochabamba. Krawatten suchte man hier vergebens, außer vielleicht bei dem als
Beobachter aus Moskau angereisten Generalsekretär des russischen Nationalen Sicherheitsrates, Nikolai
Patruschew. Venezuelas Präsident Hugo Chávez trug lieber ein rotes T-Shirt unter seinem
grünen Hemd, sein bolivianischer Kollege Evo Morales stellte seine indigene Mode zur Schau, und auch
das weiße Hemd von Rafael Correa war mit traditionellen Mustern bestickt. Wie die Kleidung, so die
Atmosphäre solcher Konferenzen: Sie ist von dem freundschaftlichen Umgang der Staatschefs
geprägt. Wenn Angela Merkel in einem wohlkalkulierten Gefühlsausbruch den französischen
Präsidenten Nicolas Sarkozy umarmt, ist das ein Thema für die Titelseiten der Tagespresse.
Bei einem Treffen der lateinamerikanischen Regierungschefs wäre hingegen ein förmlicher Umgang
miteinander nicht nur eine Meldung wert, sondern würde sofort Spekulationen über eine
"schwere Krise" in dem Bündnis befeuern.
ALBA ist eben kein gewöhnlicher Staatenbund, sondern ein Forum von Regierungen, die sich eine
grundlegende Veränderung der Strukturen ihrer Länder zum Ziel gesetzt und dabei erkannt haben,
daß sie auf sich allein gestellt mit ziemlicher Sicherheit scheitern würden. Als Hugo
Chávez im Februar 1999 sein Amt als Präsident Venezuelas antrat, galt er noch als
Außenseiter, der von selbst wieder verschwinden würde. Seine demonstrative Freundschaft und
Zusammenarbeit mit dem damaligen kubanischen Präsidenten Fidel Castro wurde von den einen
belächelt, von den anderen als Beweis für Chávez‘ "Verrücktheit"
angesehen. Was sollten die beiden linken Regierungen auch ausrichten auf einem Kontinent, der praktisch
flächendeckend von rechten, neoliberalen Regierungen kontrolliert wurde? Die USA schickten sich
gerade an, mit ihrer Freihandelszone ALCA die Märkte des Kontinents endgültig unter ihre
Kontrolle zu bringen. Kuba warnte vor der "Annexion Lateinamerikas" durch die Supermacht im
Norden, aber wen interessierte schon diese kleine Insel, deren Regierung man gar nicht erst zu den
Verhandlungen über die ALCA-Verträge eingeladen hatte?
Im Dezember 2004 traf Chávez zu einem Treffen mit Castro in Havanna ein, das dem zehnten Jahrestag
seines ersten Besuchs auf der Insel gewidmet war. 1994 hatte die kubanische Regierung den gerade erst aus
dem Gefängnis entlassenen Comandante eingeladen; auf dem Flughafen wurde er von Fidel Castro wie ein
Staatsgast empfangen. Kuba wagte damals viel, denn die offene Unterstützung für den Mann, der
am 4. Februar 1992 versucht hatte, durch einen Aufstand die venezolanische Regierung zu stürzen,
konnte durchaus scharfe Reaktionen aus Caracas zur Folge haben. Aber es war eine Investition in die
Zukunft: Fast auf den Tag genau vier Jahre später gewann Chávez die Präsidentschaftswahl
in Venezuela.
2004 unterzeichneten Castro und Chávez während ihrer Gespräche eine gemeinsame
Erklärung, in der sie ALCA scharf ablehnten: "Wir unterstreichen, daß die Freihandelszone
für ganz Amerika der vollendete Ausdruck der Herrschaftsgelüste über die Region ist. Wenn
der Vertrag in Kraft treten würde, würde das eine Verschärfung des Neoliberalismus bedeuten
und einen noch nie dagewesenen Grad an Abhängigkeit und Unterordnung schaffen". Statt dessen
sprachen sie sich für eine Bolivarische Alternative aus, einer "auf Gerechtigkeit basierenden,
lateinamerikanischen und karibischen Integration": "In diesem Sinn stimmen wir vollständig
darin überein, daß die ALBA weder nach Vermarktungskriterien noch nach den egoistischen
Profitinteressen einzelner Unternehmen oder Nationen errichtet werden kann. Nur ein breiter
lateinamerikanischer Blick, der die Tatsache anerkennt, daß sich unsere Länder isoliert weder
entwickeln noch wahrhaft unabhängig sein können, wird fähig sein, das zu erreichen, was
(...) Martí >Unser Amerika< nannte, um es von dem anderen Amerika des Expansions- und
Herrschaftsdranges zu unterscheiden".
Damals wurde diese bilaterale Erklärung kaum ernst genommen, sondern galt nur als ein weiterer
Bestandteil der Agitation beider Länder gegen die Freihandelszone. Die zahlreichen
Kooperationsverträge zwischen Kuba und Venezuela unterschieden sich zunächst nicht wesentlich
von denen der bereits in den Jahren zuvor entwickelten Zusammenarbeit. Erst als im April 2006 der seit
drei Monaten amtierende Präsident Boliviens, Evo Morales, sein Land als drittes Mitglied in die
Bolivarische Alternative führte, merkten die ersten auf. Einige Monate zuvor war im argentinischen
Mar del Plata das ALCA-Projekt der USA sang- und klanglos zu Grabe getragen worden. Gegen die von
Washington nun angestrebten bilateralen Freihandelsabkommen, zum Beispiel mit Kolumbien und Peru, setzten
Bolivien, Kuba und Venezuela ihren "Handelsvertrag der Völker", der wie schon die
ALBA-Gründungserklärung von 2004 eine solidarische Zusammenarbeit im Interesse der Völker
vorsieht.
Fünf Jahre nach der Gründung ist ALBA, das beim Gipfeltreffen im venezolanischen Cumaná
im April 2009 seinen Namen in Bolivarische Allianz" statt "Alternative" geändert hat,
um die gewachsene Bedeutung des Bündnisses widerzuspiegeln, auf neun Mitglieder angewachsen.
Ecuador, Honduras, Nicaragua und die Karibikstaaten Antigua und Barbuda, St. Vincent und die Grenadinen
sowie Dominica sind zu Kuba, Venezuela und Bolivien hinzu gestoßen. Längst ist die Allianz ein
ernstzunehmender Akteur auf der Lateinamerikanischen Bühne geworden.
So geht die Aufhebung des Ausschlusses Kubas aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) im Juni
2009 ganz wesentlich auf Initiativen aus den ALBA-Mitgliedsstaaten zurück. Auch die sofort nach dem
Staatsstreich erfolgte internationale Isolierung der Putschisten in Honduras wäre weniger eindeutig
gewesen, wenn das Bündnis sich nicht schon wenige Stunden nach dem Sturz des rechtmäßigen
Präsidenten Manuel Zelaya in Managua zu einem außerordentlichen Gipfeltreffen versammelt und
eindeutig Stellung bezogen hätten.
Das weitere Wachstum der Allianz ist bereits absehbar: Paraguay hat sein Interesse an einer Mitgliedschaft
signalisiert.
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André Scheer
Junge Welt, 04.11.2009
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