|
Kunst statt Müllberge: Muraleando
"Ein Fest des Barrios für das Barrio" – so kündigten die Moderatoren das große
Ereignis am 1. November im Stadtteil Lawton von Havanna an. Viele Bewohner des Viertels, Kinder,
Jugendliche und Erwachsene, waren gekommen, und alle trugen sie zum Festprogramm bei: Salsa- und
Flamencotänze, Lieder und Gedichte, bis hin zu selbstgeschriebenen Rap-Texten und Malerei-Spektakeln.
Ein Höhepunkt war die Übergabe des kubanischen Kulturpreises 2009 "Gitana Tropical" an
das hier beheimatete Projekt Muraleando – Anerkennung für eine herausragende und engagierte soziale
und kulturelle Arbeit.
Das Projekt Muraleando (von Mural – Wandbild) hat das Barrio zu einem mit Leben gefüllten Kunstwerk
gemacht, zu einer Galerie der "Arte popular", erklärt der Koordinator Manuel Díaz
Baldrich. Überall im Viertel sieht man bemalte Fassaden, Skulpturen und Installationen aus
Alltagsgegenständen.
Doch das Projekt greift tiefer, denn eine wichtige Rolle spielt der soziale Aspekt: Die künstlerische
Mitgestaltung und die Veränderungen sollen das soziale Leben im Viertel fördern sowie das
Bewusstsein für die Umwelt schulen. So können alle Bewohner dazu beitragen, den gemeinsamen
Lebensraum zu pflegen und bewusst wahrzunehmen.
Sowohl äußerlich als auch auf sozialer Ebene – das betonen Künstler und Bewohner – hat
sich Lawton seit Beginn von Muraleando erstaunlich verändert. Vor 9 Jahren – am 28. Januar 2001, dem
Geburtstag José Martís – wurde das Projekt durch eine Initiative von Manuel ins Leben
gerufen. Gemeinsam mit interessierten Künstlern war die Idee entstanden, etwas für das damals
recht vernachlässigte Viertel zu tun. Den Kindern sollte durch eine Malwerkstatt eine sinnvolle
Beschäftigung und Entspannung vom Alltag ermöglicht werden. Doch der Mangel an Räumen zwang
die Künstler dazu, ihre Ideen buchstäblich auf der Straße zu verwirklichen – wo dann der
Gedanke entstand, auch die Häuserwände des Viertels nach und nach zu bemalen. Das Projekt
entwickelte sich schnell weiter, und so bekamen die Straßen ein neues, fröhliches Gesicht.
Von Beginn an standen die Projekte allen Interessierten offen, die Aktivitäten für Kinder und
Jugendliche sind kostenfrei. Neben der Malwerkstatt organisieren die Künstler in ihrer Freizeit auch
Werkstätten für Theater, Tanz, Musik, Bildende Kunst, Töpferei und verschiedene
Bastelarbeiten. Das primäre Bestreben besteht aber nicht darin, große Künstler
hervorzubringen, sondern vielmehr den Kindern eine Beschäftigung zu geben und durch das Bewusstsein,
anderen zu helfen und mit ihnen zu teilen, einen Beitrag zum sozialen Zusammenleben zu leisten.
Inzwischen sind in gemeinschaftlicher Arbeit und mit Einwilligung der Hausbesitzer schon zahlreiche
Wände gestaltet worden. Die Wandmalereien erzählen aus dem Alltag, was die Menschen bewegt,
zeigen Kultur und Geschichte, immer mit dem Ziel, dass die Menschen, die täglich daran vorbeigehen,
sich damit identifizieren können.
So bemalten zum Bespiel Kinder eine Wand mit Motiven für den Frieden. Auch entstanden schon einige
Wände in Zusammenarbeit mit internationalen Künstlern. In einem Kunstwerk sind die Cuban Five
als fünf weiße, freiheitssuchende Tauben zu sehen. Eine Skulptur der Schutzpatronin von Kuba
– der Santa Virgen de la Caridad – ist mit der Nationalflagge bekleidet und repräsentiert alle auf
Kuba vertretenen Religionen.
Aber nicht nur Künstler, sondern auch Handwerker beteiligten sich an den inzwischen zahlreich
entstandenen Kunstwerken. Sie helfen, wenn zum Beispiel alte Schreibmaschinen oder Autofelgen für
eine Installation zusammengeschweißt werden müssen.
"Wo früher Müllberge waren", erklärt Manuel, "sind jetzt Orte der Begegnung,
die von der Bevölkerung gepflegt werden. Das Viertel scheint heute wie eine andere Welt zu sein, voll
Sauberkeit, Phantasie und Imaginationskraft".
Kaum glauben können die internationalen Besucher des Projektes, dass all die Arbeiten bisher ohne
finanzielle Unterstützung realisiert werden konnten. Möglich sei das nur, weil jedes Mitglied
des Projektes noch eine weitere Arbeit habe, sagt der Keramiker Josiet Quintero: "Eine Arbeit
für die Seele und eine zum Überleben". Kann man von den Kunstwerken etwas an Touristen
verkaufen, so gehen 30 Prozent des Ertrages direkt an das Projekt. Dies genügt jedoch leider nicht,
um die Unkosten zu decken, denn die benötigten Materialien sind in Kuba nur schwer zu bekommen und
auch sehr teuer. So können leider nicht alle Ideen verwirklicht werden.
Muraleando versucht auch, Menschen in sozialen Schwierigkeiten einen Platz und eine Aufgabe zu geben –
Jugendlichen, die von zu Hause weggelaufen oder im Gefängnis waren, vernachlässigten Kindern,
Personen mit Alkoholproblemen.
Der Rap-Musiker Mario Delgado Sotomayor hat sich vor sieben Jahren dem Projekt angeschlossen:
"Muraleando hat 90 Prozent meines Lebens, meines Geistes und meiner Wünsche verändert, es
ist ein Teil meines Lebens, ist für mich Mutter und Vater. Die Personen, die mich umgeben, sind
Vertrauenspersonen, die mir Ratschläge geben." Er bot den Jugendlichen im Viertel
regelmäßig einen Workshop an, in dem sie selbst Rap-Texte und Songs produzierten. Inzwischen
hat Mario begonnen, Englisch zu studieren. Trotzdem ist er nach wie vor aktiv dabei, stiftet wie jeder der
Künstler einen bestimmten Prozentsatz seiner Einnahmen dem Projekt.
Josiet Quintero, der Leiter der Töpferwerkstatt, sagt: "Die Arbeit im Projekt hat mich selbst
zu einer besseren Person gemacht. Es macht mich glücklich, daran teilzuhaben und etwas für die
Kinder des Viertels tun zu können." Wie viele andere betont auch er, dass sich das soziale Leben
im Barrio auffallend gewandelt und viele Menschen integriert hat.
Die Künstlerinnen und Künstler von Muraleando wünschen sich, dass sie ihr Viertel mit
demselben Erfolg weiter verändern können. Manuel hofft, dass sich die zuständigen
Institutionen in Zukunft mehr für das Projekt interessieren, "denn gesprochen wird zwar viel
darüber, konkrete Unterstützung gibt es bisher jedoch kaum". Er möchte, "dass
die Ideen von Muraleando weitergetragen werden in andere Barrios, an andere Orte des Landes und der
Welt".
Hanna Hausen
Cuba Sí revista 1-2010
|
|