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Unser Amerika
Die Bolivarische Allianz Lateinamerikas und der Karibik basiert auf einem neuen Konzept des
Internationalismus und der Integration von Staaten und Völkern.
Mein Thema, die Bolivarische Allianz für die Völker unseres Amerikas (ALBA), für
Lateinamerika und die Karibik, ist eng verbunden mit dem, was Silvia Alaya (Rechtsanwältin und
Abgeordnete der Partei Demokratische Vereinigung (PUD) im Nationalkongreß von Honduras)
beschrieben hat. Für viele Analytiker war der Staatsstreich in Honduras zugleich ein Staatsstreich
gegen ALBA.
Wenn wir Lateinamerikaner von dieser Allianz sprechen, dann sprechen wir von einem neuen Konzept, um einen
alten Traum Wirklichkeit werden zu lassen, der mit der Geschichte unseres Subkontinents zu tun hat.
Lateinamerika ist das Produkt der sogenannten Moderne, einem Euphemismus für Kapitalismus. Das
heutige Lateinamerika entstand durch Kapitalismus‘ und alle Unabhängigkeitsbewegungen des Kontinents
waren Versuche, eine andere "Moderne" zu bilden. Damit wurde der Diskurs radikalisiert, den wir
von Europa und von unseren Vorfahren übernommen haben. Alle Unabhängigkeitsbewegungen oder fast
alle strebten danach, ein gemeinsames Vaterland zu schaffen.
Die Vorgeschichte
Als Anfang des 19. Jahrhunderts die lateinamerikanischen Nationen entstanden, hatte Simón
Bolívar (1783-1830) bereits die visionäre Vorstellung, mit dem Kongreß von Panama 1826
eine Konföderation auf dem Kontinent zu schaffen – von Mexiko bis Peru. Sein Kampf blieb unvollendet
ebenso wie der des honduranischen Generals und Präsidenten von Zentralamerika José Francisco
Morazán (1792-1842) bis hin zum kubanischen Nationalhelden José Martí (1853-1895),
der das Erbe Bolívars am Ende des Jahrhunderts antrat. Mit diesen Kämpfen entstand der Begriff
"unser Amerika". Es klingt für diejenigen, die die Geschichte Lateinamerikas nicht so gut
kennen, vielleicht merkwürdig, aber "unser Amerika" ist anders als jenes, das aus den USA
und Kanada besteht. Ich sage das mit voller Absicht, um nicht angelsächsisches Amerika zu sagen, denn
in "unserem Amerika" gibt es auch angelsächsische Länder, z.B. in der Karibik.
Martí wollte keine staatliche Einheit erreichen, ihm ging es um einen geographisch-historischen
Raum, der modelliert werden sollte, eine Konstruktion unterschiedlicher Republiken. Er hat dieses Konzept
in den USA entworfen. Die Vereinigten Staaten, die er damals beschrieb, waren bereits imperialistisch.
Im 20. Jahrhundert verwirklichten sich einige Vorhersagen Martís. zwischen Lateinamerika und den
USA gab es eine äußerst asymetrische Entwicklung, die lateinamerikanischen Republiken
existierten getrennt voneinander, bis 1948 die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegründet
wurde. Aber sie existiert im Grunde nicht mehr, spätestens seit dem Staatsstreich in Honduras am 28.
Juni 2009. Sie war, wie der frühere kubanische Außenminister Raúl Roa (1907-1982) einmal
gesagt hat, in Wahrheit ein Kolonialministerium.
Prinzipienfrage
Es gibt etwas anderes, was sehr wichtig ist und das mit der kubanischen Revolution zu tun hat. Sie
verfolgte von Anfang an eine Politik des Internationalismus. Nach meiner Meinung war das Jahr 1963
geradezu paradigmatisch. Das ist natürlich eine kubanische Sicht, vorher gab es anderen
Internationalismus, aber in jenem Jahr begann der Einsatz kubanischer Ärzte in Algerien. Kurz nach
dem Sieg der Revolution gab es in Kuba nicht ausreichend Ärzte – heute haben wir eine enorme Zahl.
Aber das Land begann Hilfe zu leisten, selbst in einem Land wie Algerien, zu dem es sehr große
Unterschiede gab. Sie wissen, es gab von 1954 bis 1962 den algerischen Unabhängigkeitskrieg gegen
Frankreich. Seit 1959 war Charles de Gaulle (1890-1970) französischer Präsident. De Gaulle
stellte sich in dieser Zeit zumindest nicht gegen die kubanische Revolution, und geopolitisch gesehen war
es vielleicht nicht richtig, Algerien zu unterstützen. Kuba tat das dennoch, weil es eine
prinzipielle Position einnahm.
1998 gab es zwei wichtige Ereignisse. Hugo Chávez wurde Präsident von Venezuela und zwei
Wirbelstürme verwüsteten praktisch ganz Mittelamerika. Es kam zu einer Neuauflage des
Solidaritätskonzepts. Präsident Fidel Castro schlug Kanada und anderen reichen Ländern vor,
finanzielle und technische Hilfe zu leisten, um in Haiti Menschenleben zu retten, Kuba werde Ärzte
stellen. Es gab darauf keine Antwort, und Kuba übernahm selbst die Kosten. Das Resultat war,
daß die kubanischen Ärzte von da an für längere Zeit ins Ausland gingen z.B. nach
Nicaragua oder Honduras und dort zwei Jahre blieben, um direkt mit der Bevölkerung zu arbeiten.
2001 fand ein Gipfeltreffen der amerikanischen Länder – mit Ausnahme Kubas – statt, das von den USA
einberufen wurde. Es ging um ALCA, die sogenannte Gesamtamerikanische Freihandelszone unter neoliberalem
Vorzeichen, die völlig auf die Interessen der Supermacht USA zugeschnitten ist. Der einzige
lateinamerikanische linke Präsident war damals, abgesehen von Kuba, Hugo Chávez. Er stellte
sich gegen dieses Konzept, kam auf dem Rückweg nach Havanna und traf sich mit Fidel. Der sagte damals
zu ihm. "Das ist jetzt der Moment, wo man mit ALCA Schluß machen muß." Chávez
erzählte später, er habe den Eindruck gehabt, Fidel sei verrückt geworden. Aber mit der
Zeit verstand er, daß wir einen Kampf gegen diese Art der Integration führen müssen. Denn
das muß besonders hervorgehoben werden: Bei ALBA geht es darum, eine bolivarische, eine echte
Alternative zum imperialistischen Modell zu schaffe. Es handelt sich nicht darum, dem anderen etwas
entgegenzusetzen. ALBA hatte deswegen von vornherein einen sozialistischen und antiimperialistischen
Charakter.
Kampf gegen Armut
Letztlich geht es um eine andere Art der Beziehungen zwischen Ländern. Natürlich auch um
wirtschaftliche Kontakte, aber auch sie enthalten soziale und politische Komponenten, orientieren sich an
den Bedürfnissen der Bevölkerung. 2004 wurde die erste Vereinbarung zwischen Venezuela und Kuba
in einem Umfang von umgerechnet 20,5 Millionen Euro getroffen. Im Dezember 2009 wurden auf dem
Gipfeltreffen in Havanna 285 Verträge geschlossen, darunter mit einem Volumen von zwei Milliarden
Euro Abkommen zwischen Venezuela und Kuba. Der Gesamtumfang aller Verträge lag bei acht Milliarden
Euro.
ALCA und ALBA sind verschiedene Integrationswege. ALBA arbeitet nicht auf neoliberaler Grundlage, sondern
fördert einerseits den Handel und bekämpft zugleich die Armut, die Wurzeln für
Unterentwicklung. In dieser Allianz wird dem sozialen austausch ein ökonomischer Wert beigemessen. Es
werden nicht nur Verträge zwischen Regierungen abgeschlossen, sondern es handelt sich zugleich um
Vereinbarungen zwischen den beteiligten Völkern, zwischen den Menschen. Ich habe selbst einige Zeit
in Venezuela gearbeitet und das erlebt. Dort ging das bis zur gemeinsamen Organisation der Stadtviertel.
Denn eine Besonderheit des venezolanischen Prozesses ist: Die Bevölkerung beteiligt sich aktiv gerade
in den Stadtvierteln, wenn es z.B. um bildung oder das Gesundheitswesen geht. Diese sogenannten Missionen
sind keine administrativen Veranstaltungen, sie laufen neben den Bemühungen der Ministerien oder
parallel dazu.
Mit ALBA wird auch die Landwirtschaft gefördert. Dabei ist Prinzip, arme Bauern zu schützen. Sie
benötigen nicht nur Nahrungsmittel und Geld, auch ihre Kultur, ihr Wertesystem muß
beschützt werden. Es darf nicht einfach durch die Konsumgesellschaft überrollt werden.
Natürlich spielt das Erdöl Venezuelas für ALBA eine wichtige Rolle, vor allem aber wird
versucht, die kollektive Intelligenz der Völker voranzubringen. ALBA hat deswegen ein eigenes System
kultureller Einrichtungen geschaffen. Dieses neue Integrationskonzept ist nach meiner Meinung dem der
früheren sozialistischen Länder überlegen. ALBA entwickelt Kommunikationskanäle
zwischen den Völkern.
Am ALBA-Gipfel im Dezember 2009 in Havanna nahm die verfassungsgemäße Außenministerin von
Honduras Patricia Rodas teil. Mich hat sehr bewegt, als sie die anwesenden Präsidenten bat, sie
sollten nie aufhören, Honduras als Mitglied von ALBA zu betrachten, unabhängig davon, welche
Position die De-facto-Regierung in Honduras einnehmen werde. Das ist aus einem einfachen Grund
möglich. Die ALBA-Vereinbarungen sind nicht nur Regierungspapiere, sondern sie existieren zwischen
Gemeinden, Regionen, Betrieben und den Menschen, in diesem Fall betrifft das z.B. die Tausenden Studenten
aus Honduras, die in Kuba ausgebildet wurden, aber auch die kubanischen Ärzte, die weiter dort
arbeiten.
Enrique Ubieta Gomes
Junge Welt, 27.01.2010
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