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»Kubas Presse erholt sich«
Auf der sozialistischen Karibikinsel erscheinen über 1000 Publikationen – ohne Zensur.
Ein Gespräch mit Enrique Ubieta
Enrique Ubieta lebt in Havanna und ist Gründer und Chefredakteur der Zeitschrift La calle del
medio. Am 9. Januar referierte er bei der Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz in Berlin
Sie sind Chefredakteur der Zeitschrift La calle del medio. Was ist das für ein Blatt?
Es entstand vor über anderthalb Jahren und erscheint monatlich mit einer Auflage von 100000
Exemplaren. Wir diskutieren über die kubanische Realität. Deshalb sind die letzten Seiten die
wichtigsten – sie sind den Lesern vorbehalten. Wir versuchen, mit unseren Artikeln zu provozieren oder zu
begeistern, um die Leser zu bewegen, selbst etwas zu schreiben. Unsere Verlagspolitik ist also, eine
Diskussion über die Grundlagen der Gesellschaft zu fördern, in der wir leben wollen.
Wie ist es Ihnen gelungen, eine Zeitschrift mit einer so hohen Auflage zu gründen?
In einem Land wie Kuba, in dem es keine kommerzielle Werbung in Zeitungen und Zeitschriften gibt – was in
anderen Ländern die Haupteinnahmequelle ist, weil die Vertriebserlöse die Kosten nie decken
können – ist natürlich klar, daß alle Publikationen Geld vom Staat brauchen. Unsere
Zeitschrift gehört zu Prensa Latina. Das ist nicht nur eine Nachrichtenagentur, sondern eigentlich
auch ein Verlag. Er gibt zahlreiche Zeitschriften zu unterschiedlichen Themen heraus.
Kontrolliert jemand die Inhalte der Zeitschrift, außer der Redaktion und dem Verlag?
Der Hauptverantwortliche für eine Publikation ist in Kuba der jeweilige Direktor, also der
Chefredakteur. Das ist nicht anders als in Deutschland. Auch hier werden täglich viele Artikel und
Leserbriefe geschrieben und geschickt, die nie veröffentlicht werden.
Wer zensiert also? Natürlich die Verlagspolitik, die entscheidet, was erscheint und was nicht.
Aber es gibt in Kuba keine Zensurbehörde, der ich die Artikel des Blattes vorher vorlegen muß,
falls Sie das meinen.
Vor zehn, 15 Jahren litt Kuba unter einer großen Papierknappheit, von der besonders die
Presse betroffen war. Zum Beispiel konnte die Tageszeitung Juventud Rebelde nur noch wöchentlich
erscheinen. Ist das Problem gelöst?
Wenn das Problem gelöst wäre, hätte unser Land die »Spezialperiode« bereits
überwunden, die mit dem Wegfall der früheren sozialistischen Handelspartner entstanden war. Nach
wie vor leiden wir unter der Wirtschaftsblockade der USA, und schließlich ist die
Weltwirtschaftskrise hinzugekommen, die auch uns in Mitleidenschaft zieht.
Trotzdem hat sich das kubanische Pressewesen erholt. Die Parteizeitung Granma und Juventud Rebelde haben
in der Wochenendausgabe ihren Umfang auf 16 Seiten erweitert – in der Woche sind es nur acht Seiten. Das
ist aber noch nicht der Umfang, den sie haben sollten, denn wir brauchen noch mehr Raum zum Diskutieren.
Die Lage hat sich auch insofern verbessert, als es möglich wurde, neue Publikationen wie La calle del
medio herauszugeben. Es sind auch Zeitschriften auf den Markt zurückgekehrt, die schon verschwunden
waren, zum Beispiel Mujeres, Romance oder Verde Olivo. Hinzu kommen natürlich noch die Publikationen
in den Provinzen. Vor drei Jahren habe ich mal eine Statistik gesehen, die ging damals schon von weit
über 1000 Zeitungen und Zeitschriften im ganzen Land aus.
In Deutschland sind die Titelblätter der Zeitungen und Zeitschriften zur Zeit voll mit
Berichten über Haiti. Wie verfolgt die kubanische Presse die Entwicklungen dort?
Kuba arbeitet seit über zehn, elf Jahren auf medizinischem Gebiet mit Haiti zusammen, 1999
gehörte ich selbst zu den ersten kubanischen Helfern dort, als Haiti von einem Hurrikan heimgesucht
wurde. Kuba hatte damals die reichen Länder der Welt aufgerufen, zusammenzuarbeiten, um gemeinsam
Haiti zu helfen, aber darauf gab es keine Reaktion. Deshalb hat Kuba diese Aufgabe allein übernommen
und elf Jahre lang ärztliche Hilfe geleistet. Es waren bislang 26000 Ärzte und Pflegekräfte
im Einsatz.
Sie können sich vorstellen, daß die sich jetzt Sorgen um ihre Freunde machen, die sie auf Haiti
zurückgelassen haben. Zum Zeitpunkt des Erdbebens waren 400 kubanische Ärzte in Haiti im
Einsatz, und sofort wurden weitere Hilfslieferungen losgeschickt und zusätzliche Kubaner in Marsch
gesetzt. Es gibt auch viele Haitianer, die in Kuba studiert haben. Sie haben Freunde zurückgelassen,
vielleicht auch eine Freundin. Diese Verbindungen spiegeln sich auch in unserer Presse wider.
Interview: André Scheer
Junge Welt, 30.01.2010
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