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»Der partizipative Anteil der Volksmacht ist gering«
Der Soziologe Aurelio Alonso macht sich Gedanken über die kubanische Revolution


Der Sturm auf die Moncada jährt sich heute zum 57.Mal. Trotz seines Scheiterns gilt der Angriff auf die Kaserne als Ausgangspunkt der kubanischen Revolution, die am 1. Januar 1959 zur Machtübernahme von Fidel Castro und seinen Mitstreitern führte. Aurelio Alonso (*1939) ist kubanischer Soziologe, Mitglied der kommunistischen Partei, und publiziert in Kuba wie auch im Ausland. Er war Gründungsmitglied der Philosophischen Fakultät von Havanna und ihrer Zeitschrift Pensamiento Crítico. Er ist Mitglied verschiedener internationaler Zeitschriften, hier etwa der belgischen Zeitschrift Alternatives Sud und der internationalen Zeitschrift Ruth. Cuadernos de Pensamiento Crítico. Zurzeit ist er stellvertretender Direktor der Kulturzeitschrift Casa de las Américas. Er zählt neben Desiderio Navarro zu den kritischsten Stimmen seiner Generation. Über die Geschichte, Stand und die Zukunft der kubanischen Revolution sprach mit ihm für ND Ute Evers.

ND: Herr Alonso, Sie sind für Ihre Analysen über Politik, Gesellschaft und Religion weit über die Grenzen von Kuba bekannt. Was kritisieren Sie in Ihrem Land am stärksten?

Alonso: Die Strukturen der Ökonomie, die Einschränkungen und die Stagnation, die eine demokratische Vervollkommnung der Institutionen und der Volksmacht hin zu einer sozialistischen Demokratie verhindern. Ich befürchte, dass Kuba im Vergleich zu Venezuela, Ecuador und Bolivien zurückbleiben könnte. Während es diese Länder schaffen, weiter zu kommen, könnte Kuba stagnieren – dies, obwohl es sich bei Kuba um das sozialistische Pionierprojekt in unserem Amerika schlechthin handelt und obwohl es so bedeutende Figuren wie Che Guevara und Fidel Castro hervorgebracht hat.

Was können Sie uns über die Kubanische Volksmacht erzählen?

Das Modell der Kubanischen Volksmacht versuchte, sich vom sowjetischen durch Elemente der Volkspartizipation zu unterscheiden, die das sowjetische nicht vorwies. Aber darüber hinaus kam es nicht. Der partizipative Anteil ist gering und funktioniert nur an der Basis. Es ist ein sehr zentralisierter Verwaltungsapparat, in dem die Gemeinden über wenig eigene finanzielle Mittel verfügen. Es gibt demokratische Maßnahmen wie jene, direkt von der Basis aus Delegierte für die Gemeindeversammlung der Volksmacht wählen zu können, ohne Einmischungen von Parteien oder anderen Institutionen – auf der Ebene der Nationalversammlung ist das nicht mehr möglich. Andererseits verfügt man über keinerlei Macht, Lösungen selbst zu erarbeiten und umzusetzen. Die Delegierten der Gemeinden sind Opfer des politischen Systems. Ich kritisiere meine Partei, aus der ich nicht gedenke auszutreten, denn ich lebe meine Parteimitgliedschaft aus Überzeugung. Doch die Partei muss sich demokratisieren, wenn sie ihr Funktionieren als Einheitspartei aufrecht erhalten will. Das Wichtigste ist nicht, dass sie einheitlich ist, sondern dass sie mit Kohärenz eine Avantgarde aufbaut.

Ist der Einfluss der so genannten Alt-Kommunisten immer noch so groß, eine progessive Bewegung zu bremsen, die doch immer stärker wird?

Ja, das ist er. Und was die Veränderungen angeht, die mit der Machtübergabe von Fidel Castro auf Raúl Castro einhergingen, war das einzige, was bisher gemacht wurde, dass man die Personen, die noch immer den Diskurs der 1960er Jahre verfolgen, an die Seite von Raúl gestellt hat. Es scheint, dass man von der Notwendigkeit eines Generationswechsels nicht viel hält.

Unlängst erschien von der kubanischen Essayistin Graziella Pogolotti eine Anthologie zu den Debatten der 1960er Jahre. Trägt das Buch zum aktuellen kritischen Diskurs bei?

Ich glaube ja. Obwohl die kubanischen Institutionen nach wie vor unter der Aufsicht der Behörden stehen. Die Vorstellung der Partei ist die eines Schirms, unter dem die Revolution gegen all das, was wider sie geäußert wird, geschützt werden muss. Dies, für sich genommen, könnte plausibel erscheinen. Doch fragt man sich, wie dieses gegen definiert wird und wo die Grenzen zu diesem gegen verlaufen, dann fällt auf, dass diejenigen, die die Politik verwalten, die Grenzen setzen, wo und wie es ihnen passt.

Blicken wir weiter in die 60er Jahre zurück, als in Kuba eine Epoche begann, die die Zeit nach dem Tod von Ernesto »Che« Guevara in ein graues Licht werfen sollte …

Sie beziehen sich sicher auf die Zeit, die der kubanische Essayist Ambrosio Fornet die Grauen Fünf Jahre (Quinquenio Gris) taufte, die in Wirklichkeit aber keine fünf Jahre waren, außer, was den Verfolgungswahn einiger Funktionäre anging, die mit ihrer unglücklichen dogmatischen Handlungsweise diese Zeit prägten. Der Zeitraum von fünf Jahren spielte auf die literarische und künstlerische Tätigkeit an. Was die ideologischen Restriktionen im sowjetischen Stil angeht, kann man von zwei Jahrzehnten reden. Ich glaube, dass es auf der kreativen Ebene zwei Projektionen gab: Die eine verteidigte den sozialistischen Realismus und die andere versuchte, neue Ausdrucksformen der Kunst zu schaffen. Dies betraf das Kino, die Literatur und die darstellenden Künste.

Das kubanische Filminstitut ICAIC ist immer eine Institution gewesen, die eine relativ unabhängige Position aufrechterhalten konnte …

Ja, und genau deswegen wurde es auch bald »ein Splitter im Auge« für den Nationalrat für Kultur und den Apparat in der Partei, der die Kultur und die Erziehung kontrollierte. Sie griffen das Institut mit aller Macht an. Alfredo Guevara, der Gründer des Filminstituts im Jahre 1959, hatte die Fähigkeit und den Mut, sich all dem entgegenzustellen. Zusammen mit anderen, vor allem aber durch sein Engagement, trug er 1976 dazu bei, dass der zu ernennende Kulturminister nicht ein designierter Altkommunist wurde, der mit größter Sicherheit den sozialistischen Realismus durchgesetzt hätte, sondern Armando Hart. Guevara verhinderte, dass sich eine Routine im Denken und der kulturellen Kreation einstellen würde. Ich glaube, weder für das sowjetische Politbüro noch für das kubanische war es von großer Bedeutung, dass im kulturellen Bereich der sozialistische Realismus herrschte. Deswegen nennt Fornet diese Zeit Quinquenio. Er nennt sie grau, weil wir keine systematischen Polizeirepressionen erlitten, wie es sie unter Stalin gab. Es gab sehr bedauerliche Vorfälle, wie um Heberto Padilla, der 1971 wegen eines regimekritischen Gedichtbandes verhaftet wurde. Aber Vorfälle dieses Ausmaßes waren gering. Guevara und seine Mitstreiter konnten auf dem Feld der Ideologie indes nichts bewirken. Die Ideologie war in den 70er und 80er Jahren nicht zu korrigieren. Obwohl sich in der marxistischen Doktrin auch eine Öffnung hätte auftun können, stellte der ideologische Sektor nämlich eine ganz andere Bedingung dar. Denn die Doktrin berührte die Politik und in der Politik entwickelte sich auch eine kritische Tendenz innerhalb des Systems zum System. Deswegen möchte ich noch einmal wiederholen: Für die Ideologie waren es keine fünf, sondern zwanzig graue Jahre.

Erzählen Sie uns von Ihrer Zeit in der Philosophischen Fakultät in Havanna, als sich junge Dozenten zu einer neuen Bewegung zusammenschlossen.

Wir begannen eine Kritik über die sowjetischen Lehrbücher zu entwerfen und, anstelle einer marxistischen Philosophie über materialistische Dialektik und historischen Materialismus, erarbeiteten wir ein Lehrprogramm über die Geschichte des marxistischen Denkens. Für uns war es wichtiger zu unterrichten, was der historische Kontext eines Karl Marx und Friedrich Engels war, wie sie über ihre Missgeschicke, Erfolge und Enttäuschungen zur Doktrin gelangten, in welchen Punkten sich diese Doktrin nach ihrer Epoche richteten und wo sie sich weiter entwickeln mussten. Weshalb es dazu kam, dass sich Russland zum revolutionären Mittelpunkt Europas entwickelte, welche Rolle Lenin als politischer Genius innerhalb der marxistischen Tradition einnahm, welche Leo Trotzki und noch andere spielten. Über diese Fragestellungen wollten wir auch zur Chinesischen und Kubanischen Revolution gelangen. Dies war der Marxismus, den wir lehren und den wir der Lehre der sowjetischen Handbücher entgegenstellen wollten.

Und wie fand diese Konfrontation konkret statt?

Wir hatten heftige Auseinandersetzungen mit einigen Professoren, die uns schließlich mitteilten, dass sie unsere Vorgehensweise in ihrer Zeitschrift kritisieren würden. Man bezichtigte uns, Kleinbürger und Revisionisten zu sein, die den Marxismus verändern wollten. Daraufhin fragte ich sie, ob sie in ihrem Medium eine Replik von mir veröffentlichen würden. Natürlich sahen sie sich gezwungen, dies zu bejahen. Damit begann eine polemische Debatte, die ich dann aber wieder abbrach. Ich spürte, dass ich gegen eine Wand sprach. Die Polemik über die philosophischen Handbücher fand jedoch vor allem in Frankreich und Deutschland ein großes Echo. Hans Magnus Enzensberger veröffentlichte Teile dieser Debatte im Kursbuch 18, 1969, das Kuba und der Revolution gewidmet war. Unsere Zeitschrift Kritisches Denken wurde 1971 von den Behörden verboten. Ich glaube, das war falsch und ungerecht. In einem sozialistischen Land im alten Stil gibt es kein Papier, kein Geld, alles hängt von einer Art Barmherzigkeit der Macht ab. Hätten wir versucht, die Zeitschrift aufrecht zu erhalten, so hätte dies bedeutet, zur Opposition überzutreten und somit in eine direkte Konfrontation zu treten. Aber das wollten wir nicht. Dennoch verteidigten wir unsere Position ganz entschieden und hatten Diskussionen mit dem Politbüro.

Wie sieht es bei Ihnen heute aus?

Ich versuche, so wenig wie möglich in der Casa de las Américas zu publizieren, weil ich in der Redaktion dieser Zeitschrift sitze: Dort schreibe ich Rezensionen und ähnliches. Meine kritischten Texte bringe ich dort nicht heraus, es würde mir auch missfallen, wenn der Eindruck entstünde, ich würde meine verantwortliche Stellung dort ausnutzen. Außerdem möchte ich die Verlagslinie nicht in Verlegenheit bringen. Casa de las Américas ist keine ideologische Zeitschrift, um den Sozialismus in Kuba zu diskutieren. Es gibt Artikel von mir, die man nicht veröffentlicht. Bestehe ich indes darauf, dann sagt man mir freundlich: »Aurelio, dein Artikel ist gut, aber das Problem ist, dass du sehr heikle Kritiken formulierst.« Die Macht der Zensur geht immer von einem Politiker aus, nie von einem Intellektuellen, der, hat er einmal eine Machtposition inne, es riskiert, sich zu verändern.

Am 26. Juli begeht Kuba den »Tag der Rebellion«. Wie werden Sie den Tag verbringen?

Ich werde diesen Tag in der Genugtuung begehen, dass das System, welches das kubanische sozialistische Experiment geschaffen hat, mit all seinen Fehlern, die es hinter sich herschleift, immer noch auf den Beinen steht und mit seinem unverändert moralischen Geist widersteht. Und mit der Entrüstung, dass 50 Jahre vergangen sind und die USA, trotz der Reklamationen in den Vereinten Nationen, bis heute nicht willens sind, die Wirtschaftsblockade aufzuheben und eine Normalisierung in ihren Beziehungen zu Kuba einzuschlagen. Mit dem Kummer, dass meine Generation ebenso wie die Führungsgeneration nicht die Notwendigkeit erkannt hat, mehr auf dem Weg zur Konsolidierung einer nachhaltigen Wirtschaft und zum Aufbau einer sozialistischen Demokratie und demokratischen Kultur vorwärtsschreiten. Kurz: In der Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist, wissend, dass wir Erfolge vorweisen können, die wir unter schwierigsten Bedingungen erlangt haben, in der Sicherheit, dass wir widerstehen werden und im Glauben, dass wir noch genügend haben, um unsere wirtschaftlichen Grundlagen zu verbessern. So habe ich vor, den 26.Juli zu feiern.

Neues Deutschalnd
Neues Deutschland 26.07.2010









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